Kimono

Auf einem Streifzug durch das Internet entdeckte ich den lesenswerten Blog „Karate und ich“ [http://kampfmuffin.blogspot.ch/search/label/Gi, besucht am 15. Januar 2017]. Zwei Karatekas aus einem norddeutschen Verein berichten in Kapiteln über ihren sportlichen Werdegang. Eine Betrachtung zur Rolle und Funktionalität des Karateanzugs sticht dabei heraus. Der steife Stoff erzeugt zum Beispiel bei der schnellen Ausführung einer Technik ein krachendes Rauschen durch das man deren Güte regelrecht hören kann. Der Karategi wirke ferner wie eine Barriere zur Aussenwelt, die Schutz und Sicherheit bietet. Wie verhält es sich nun mit der Entsprechung bei uns, dem Judogi?

Auch ich kenne das eigenartige Gefühl, wenn ich die Matte in „normalen“ Sportklamotten betrete: halbnackt und exponiert. Da ist es mir lieber, beim Kinder-Plausch-Training klar overdressed aufzulaufen. Auch gibt es in unseren Tagen einen fliessenden Übergang zwischen Strassen- bzw. Freizeitkleidung und dem, was im Sport getragen wird. Anders ist es bei Kimonos [„Kimono“ soll als Überbegriff für die verschiedenen Anzüge, die in japanischen Kampfsportarten verwendet werden, dienen. Korrekter wäre allerdings Keikogi, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Keikogi, besucht am 15. Januar 2017]. Sie sind selbst in Japan inzwischen auf ganz spezielle Gelegenheiten beschränkt und hier kommt kaum jemand auf die Idee, öffentlich im Judogi herumzulaufen. Man schlüpft für das Judotraining also in eine andere Haut, eine andere Welt.

Vor einiger Zeit habe ich mir einen neuen Kimono geleistet. Schwere Ausführung – fand ich angemessen für mich. Auch der Judogi verleiht mir Halt und Schutz. Nach der Wäsche und einer umweltfreundlichen Lufttrocknung lässt er sich nur mit Mühe in die Sporttasche drücken. Nach dem Anziehen wird er zum Exoskelett. Das ist im Training aber kein Problem. Nach der Aufnahme von reichlich Feuchtigkeit und einem kurzen Bodenrandori ist er geschmeidig wie Seide.

Wenn ich ein paar bekannte Sportarten durchgehe, Fussball, Radfahren, Tennis, Kendo und alles, was mit Skiern zu tun hat, fällt mir keine ein, bei der die Bekleidung eine solche Rolle spielt, wie beim Judo. Sportbekleidung dient üblicherweise zur Vermeidung von Verletzungen, Unterkühlung und Nacktheit. Doch schon bei der europäischen Entsprechung des Judo, dem Ringen, ist die Bekleidung kaum mehr als eine Kennzeichnung der beiden Kämpfer. Im klassischen Griechenland haben sich die Ringer sogar eingeölt, um noch weniger Griffmöglichkeiten zu bieten. Am nächsten dran sind noch die rustikalen Hot-Pants der Schwinger, doch schon das Hemd würde keinem Griff länger standhalten. Der Judogi ist anders ausgelegt und daher weit mehr als eine Sportbekleidung. Zusammen mit der Matte ist er das eigentliche Sportgerät. Er vermittelt über Griffe den Kontakt zum Partner und wird bei Würgern und Haltegriffen zum unersetzlichen Werkzeug.

Der deutsche Begriff Judoanzug beschreibt den Judogi gut als vollständiges Kleidungsstück bestehend aus einer Hose, die maximale Bewegungsfreiheit erlaubt, einer Jacke mit ausgeprägtem Kragen, manchmal einem T-Shirt drunter und einem Gürtel, freilich ohne Schuhwerk, Taschen und Knöpfe. Ein Nullreiher, wenn man so will. Überhaupt finden sich Knöpfe nur noch selten in der modernen Sportbekleidung. Dabei waren sie selbst an Schwimmsachen zu Anfang des letzten Jahrhunderts noch selbstverständlich. Diese Monturen [http://www.lenzing.com/fileadmin/template/pdf/konzern/lenzinger_berichte/ausgabe_16_1964/LB-0161964075.pdf besucht am 15. Januar 2017] stehen aus heutiger Sicht allerdings einem Burkini deutlich näher als die wenigen Quadratzentimeter Synthetik unserer Tage. (Vielleicht kann dieser Blick zurück die aktuelle Debatte um Verhüllung am Strand etwas entschärfen.) Knöpfe würden drücken, scheuern und unter Trainingsbedingungen reihenweise abspringen. Ihr Fehlen hat aber auch einen ganz banalen Grund. Die Japaner hatten es schlicht verpasst, sie als Verschluss für Kleidung zu erfinden. Erst im 16. Jahrhundert, mit dem Eintreffen portugiesischer Seefahrer [Lewis Darnell „Das Handbuch für den Neustart der Welt“, Hanser Verlag Berlin, ISBN 978-3-499-63064-4], tauchen sie dort auf und haben es nicht mehr geschafft, Teil des klassischen Kimonos zu werden. Ihre Funktion übernimmt der Obi, der gleich noch die Graduierung des Judokas abbildet, und ein Band für die Hose. Beide sind robust und weich, stören somit nicht. Wichtig ist allerdings ein solider Knoten am Gürtel. Hier gibt es mehrere Varianten, mein Favorit ist der ohne Überkreuzung am Rücken.

Der Judogi schlägt die Brücke zu den historischen und geographischen Wurzeln des Judo und verwandten Disziplinen wie Aikido und Ju Jitsu. Er ist einzigartig, gerade im Vergleich mit ähnlichen Sportarten, ist Sportgerät, Erkennungszeichen und Templat für die innere Haltung in einem. Ich glaube, Judo ohne Judogi ist kaum vorstellbar. Über die Jahre ist er mir vertraut geworden und doch ist er alles andere als selbstverständlich.

Franz

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